Antrittsrede von Max Planck, gehalten in der Leibnizsitzung der Akademie am 28. Juni 1894

zum Inhaltsverzeichnis

vorheriges | nächstes Dokument

Text
 blättern PDFWord
In die Empfindung der Freunde und des Dankes, die mir das Bewußtsein der hohen Ehre erweckt, der Akademie der Wissenschaften fortan als Mitglied angehören zu dürfen, mischt sich ein Gefühl tiefer Wehmut, wenn ich des teuren, auch dieser Versammlung viel zu früh entrissenen Mannes gedenke, welcher vor nun fünf Jahren an eben dem Feste, das wir heute begehen, in seinen Antrittsworten von dieser Stelle aus den gegenwärtigen Stand und die nächsten Aufgaben der Experimentalphysik geschildert hat.1

Mich haben Neigung und Fähigkeiten von jeher auf die theoretische Forschung gewiesen, das einzige Gebiet, auf welchem ich auch in Zukunft Nützliches zu wirken hoffen kann. Dem theoretischen Physiker sind in der Gegenwart ungleich schwerere Aufgaben gestellt, als noch vor einem Menschenalter. Damals gab es für jeden, der in der exakten Naturwissenschaft nach großen, einfachen Gedanken, nach einer zusammenfassenden Naturanschauung suchte, nur ein einziges fest bestimmtes, durch das eben entdeckte Energieprinzip zum ersten Mal als erreichbar hingestelltes Ziel: die Zurückführung aller Naturvorgänge auf Mechanik. Viele reiche Erfolge hat diese Losung bereits der Wissenschaft eingetragen, und wenn auch die kühne Hoffnung, daß es gelingen werde, jede einzelne Molekel oder gar jedes Atom auf seinen Bahnen messend zu verfolgen, sich nicht verwirklichen konnte, so hat doch in dem regellosen Gewirr der schon in den kleinsten wahrnehmbaren Gasräumen nach Billionen zählenden Molekeln die statistische Methode wertvolle und unerwartete Aufschlüsse über den Zusammenhang mancher bis dahin unvermittelt nebeneinanderstehenden Tatsachen geliefert.

Heutzutag ist in diesem direkt nach dem höchsten Ziel gerichteten Streben ein Stillstand, eine gewisse Ernüchterung eingetreten. Stellt schon die mathematische Analyse dem weiteren Vordringen in so verwickelte Bewegungsarten zum Teil unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen, so ist dafür hauptsächlich doch noch eine tiefer liegende Ursache vorhanden. Nicht als ob sich irgend ein Umstand gezeigt hätte, welcher die Lösbarkeit des Problems der Zurückführung auf Mechanik in einem Punkte in Frage stellte, etwa dadurch, daß die Begriffe der Mechanik nicht ausreichten, um die ganze bunte Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen zu bewältigen – gerade das Gegenteil ist der Fall: das Problem erscheint, je tiefer gefaßt, um so vieldeutiger. Es gibt heute nicht ein einziges bestimmtes, sondern vielmehr eine Anzahl ganz verschiedenartiger mechanischer Modelle, von denen jedes den Verlauf der einzelnen physikalischen Vorgänge, soweit wir ihn gegenwärtig beurteilen können, widerzuspiegeln beansprucht; alle sind höchst kompliziert, und keines besitzt entscheidende Vorzüge vor den übrigen. Der Forscher also, der sich mit dem näheren Studium eines speziellen von ihm bevorzugten Modells beschäftigt, kann dem unbefriedigenden Gefühl nicht entgehen, daß die Schwierigkeiten, mit denen er dabei zu kämpfen hat, vielleicht nicht der Natur der Sache, sondern einer Unzweckmäßigkeit der von ihm getroffenen Auswahl entspringen.

Eine Entscheidung können bei dieser Lage der Dinge nur neue allgemeine Ideen bringen, und solche müssen von anderer Seite herkommen, sie müssen durch Einführung neuer Postulate dazu verhelfen, den Kreis der Möglichkeiten weiter zu beschränken und so unter der Fülle der Vorstellungen, welche die mechanische Anschauung an und für sich noch zuläßt, eine engere Wahl zu gestatten. Ein derartiges Postulat, welches, obwohl schon alt, besonders durch die jüngsten Entdeckungen auf dem Gebiet der Elektrodynamik erheblich an praktischer Bedeutung gewonnen hat, ist die Ausmerzung von solchen Kräften, die ohne Vermittelung eines Zwischenmediums auf endliche Entfernungen hin wirken. Der hierdurch bedingten großartigen Vereinfachung der Naturanschauung ist nur diejenige zu vergleichen, welche die Physik schon seit mehreren Jahrhunderten durch die Abschaffung des Zweckbegriffs erzielt hat, insofern hierdurch in ähnlicher Weise die Annahme eines direkten, durch keine Zwischengeschichte vermittelten Zusammenhangs zwischen zwei zeitlich getrennten Vorgängen aufgehoben wurde. Indes von der Aufstellung des Postulates bis zu seiner Durchführung ist ein weiter Weg. Wie in den kosmischen Räumen, so beherrscht in der molekularen Welt die Vorstellung der Anziehung und Abstoßung entfernter Massenpunkte noch heute die meisten Spekulationen, und man muß gestehen, daß der hierfür von einigen Seiten angebotene Ersatz einstweilen noch keineswegs genügt.

Es hat sich daher neuerdings in der physikalischen Forschung auch das Bestreben Bahn gebrochen, den Zusammenhang der Erscheinungen überhaupt gar nicht in der Mechanik zu suchen, indem man die verschiedenen Fäden nicht erst in dem letzten, höchsten Punkte, wo sie allerdings schließlich alle zusammenlaufen müssen, sondern schon früher passend verknüpft. Die ganze neuere Entwicklung der Thermodynamik hat sich unabhängig von der mechanischen Theorie, einzig auf Grund der beiden Hauptsätze der Wärmelehre, vollzogen, auch die fundamentalen Beziehungen zwischen Elektrodynamik und Optik, zwischen Galvanismus, chemischer Affinität und Thermodynamik sind gefunden worden ganz ohne Rücksichtnahme auf die mechanische Natur der betreffenden Vorgänge. Ebenso steht zu hoffen, daß wir auch über diejenigen elektrodynamischen Prozesse, welche direkt durch die Temperatur bedingt sind, wie sie sich namentlich in der Wärmestrahlung äußern, nähere Aufklärung erfahren können, ohne erst den mühsamen Umweg durch die mechanische Deutung der Elektrizität nehmen zu müssen. Als fester Ausgangspunkt bleiben dann allerdings nur wenige Sätze zurück, vor allem das universale Energieprinzip.

Fast könnte es nach allem diesem den Anschein erwecken, als ob sich die gegenwärtige Richtung in der Physik von der mechanischen Naturauffassung entferne, oder wenigstens ihrer entbehren können; indes wäre eine solche Anschauung doch nur in beschränktem Sinne richtig. Denn wie auch die Forschung ihre Methoden wechseln mag, immer stellt sie nur eine Vorarbeit dar zur Erreichung des für alle Zeiten unverrückbar feststehenden Zieles, welches in der Herstellung des einen großen Zusammenhangs alle Naturkräfte beruht. Die innigste Form des Zusammenhanges aber – diejenige, ohne welche sich unser Erkenntnistrieb niemals ganz zufrieden geben wird -, liegt eben nur in der Identität, und diese wird sich auf keinem physikalischen Gebiet besser durchführen lassen als in der Mechanik.

Der Anteil des Theoretikers an derartigen Fortschritten ist freilich immer nur ein beschränkter. Er kann durch seine Arbeit wohl die Richtung anweisen helfen, und kann auch hinterher mache in den beobachteten Tatsachen enthaltene Lücke ausfüllen, aber das ganze Material, mit dem er arbeitet, muß ihm schließlich immer erst durch die Kunst des Experimentators zugeführt werden. Und doch ist seine zusammenfassende Tätigkeit ebenfalls notwendig, gegenwärtig wohl notwendiger als jemals, weil sie eine Ergänzung darstellt zu der in immer unabsehbarere Weiten sich ausbreitenden Einzelforschung. Die Zeiten sind vorüber, wo in einer einzigen Persönlichkeit das Spezielle und das Allgemeine neben einander bequem Platz finden konnten. Heute bedarf es dazu schon des Riesengeistes, auf den unsere Akademie ihren höchsten Stolz setzt, und in Zukunft müßte das Wunder noch weit größer sein. Daher bleibt nichts übrig, als daß jeder auf seinem Posten das Gebiet, das er sich auserkoren, gewissenhaft durchforscht, und daß die Nachbarn sich vertrauensvoll in die Hände arbeiten.

Mir ist nicht das Glück zuteil geworden, daß ein hervorragender Forscher oder Lehrer in persönlichem Verkehr auf die spezielle Richtung meines Bildungsganges Einfluß genommen hat. Was ich darin gelernt habe, entstammt ausschließlich dem Studium der Schriften unserer Meister, unter denen ich vor allen die Namen Hermann von Helmholtz, Rudolf Clausius, Gustav Kirchhoff dankbar in Ehren halte. Habe ich mir durch die heutzutage seltenere Art von Schulung einen verhältnismäßig hohen Grad von Unabhängigkeit des Urteils bewahrt, so ist andererseits aus demselben Grunde meine Bildung von einer gewissen Einseitigkeit nicht frei geblieben, die ich bedaure, ohne sie nachträglich vollständig beseitigen zu können. Das wenige aber, was ich vermag, werde ich zeit meines Lebens freudig in den Dienst des höchsten wissenschaftlichen Berufes stellen, des Berufes dieser Akademie, und damit zugleich mich des Vertrauens wert zu zeigen suchen, welches Ihr Wohlwollen mir bewiesen hat.

1 Gemeint ist August Kundt (1839-1894), der seine Antrittsrede am 4. Juli 1889 in der Akademie gehalten hatte.
Quelle
Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1894,2, S. 641-644
Die Erwiderung auf Plancks Antrittsrede hielt A. Auwers als Klassensekretar. Sie ist nicht überliefert.